Leseprobe aus: Acacia – Flammendes Grab

11.06.2024
  • Prolog

«Ich weiss, was du getan hast. Du bist ein Monster.»

Es waren einige Minuten vergangen, seit sie diese Worte gesagt hatte. Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Vielleicht waren es auch bloss Sekunden gewesen, sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Sie wusste nur, dass es ein furchtbarer Fehler gewesen war, hierherzukommen. Ein Fehler, den sie nun mit ihrem Leben bezahlte.

Sie fiel.

Und fiel.

Bis der harte Boden ihren Fall stoppte.


  • Kapitel 1

Einige Wochen zuvor

Jeder, der behauptete, dass es etwas Tolles sei, neu an einer Universität zu sein, hatte eindeutig noch nie die Uni gewechselt. Denn es war absolut nichts toll daran, von allen angestarrt zu werden. Aber genau das blühte mir dank meiner Eltern, die auf die glorreiche Idee gekommen waren, nach England auszuwandern. Dabei hatten wir in New York alles gehabt, was man sich hätte wünschen können. Aber mein Vater hatte eine Stelle in einer Werbeagentur in Liverpool vorgesetzt bekommen und war der Meinung gewesen, das Angebot nicht ausschlagen zu können.

Deshalb war ich jetzt hier. An der Thompson-Universität. Eine Uni auf einer verdammt kleinen Insel mitten im Nirgendwo, zwischen Blackpool und der Isle of Man.

Vor zehn Minuten hatte mich die Fähre abgesetzt, nun stand ich vor dem Eingangstor. Ein langgezogenes Gebäude erwartete mich, aber noch hatte ich nicht den Mut gefunden, einzutreten. Eigentlich war das Schwachsinn, denn es war nicht so, als würde mich dort drinnen der Teufel erwarten.

«Du bist bestimmt Acacia Davies», riss mich eine fröhliche Stimme aus meinen Gedanken.

Mir war nicht aufgefallen, dass sich die Tür geöffnet hatte und eine junge Frau nach draussen getreten war. Ihre pinkgeschminkten Lippen waren zu einem offenherzigen Lächeln verzogen, als sie mir ihre Hand hinstreckte.

«Ich bin Celia. Der Dekan hat mir aufgetragen, dich abzuholen. Für den Fall, dass du es dir anders überlegst und abhauen willst.»

«Abhauen?», wiederholte ich und warf einen Blick über meine Schulter. Von der Fähre war kaum noch was zu sehen; und wie mir mitgeteilt worden war, würde sie erst am Wochenende wieder anlegen. Wenn ich also nicht vorhatte, an Land zu schwimmen, steckte ich hier fest. Was vermutlich der Grund war, wieso irgendjemand überhaupt erst auf die Idee gekommen war, eine teure Privat-Uni auf einer kleinen Insel zu eröffnen. Die Gefahr war geringer, dass die Studierenden Schwachsinn anstellten, anstatt die Vorlesungen zu besuchen.

Sie lachte erheitert und warf dabei ihr langes, schwarz gelocktes Haar nach hinten. «Ja, idiotisch, ich weiss.» Bevor ich antworten konnte, hatte sie sich bei mir eingehakt und zog mich mit sich.

Die Tür öffnete sich automatisch und gab den Blick in einen breiten, hell erleuchteten Flur preis.

«Also, das ist das Nebengebäude. Hier rechts sind die Vorlesungssäle.» Sie deutete auf die blaugestrichenen Türen. «Links sind bloss Abstellkammern. Wenn du keine Scheisse baust und deswegen die Gänge putzen musst, wirst du nie mit ihnen Bekanntschaft schliessen.»

«Verstehe.»

«Du beginnst heute mit Älterer Englischer Literatur, das ist in Raum N3.»

Ich folgte ihrem Fingerzeig zur Tür. N3 also, das konnte ich mir merken.

«Die ersten zwei Vorlesungen hast du schon verpasst.» Sie zog mich mit sich und gemeinsam bogen wir um die Ecke, bis wir vor einer weiteren Tür standen, die sich von selbst öffnete. Sie führte uns in einen hübschen Innenhof, der von Rosensträuchern eingezäunt wurde.

Von hier hatte ich einen perfekten Blick auf den hohen Kirchturm, der aus dem Gebäude, das uns nun gegenüberlag, ragte.

«Das ist das Hauptgebäude mit den Schlafzimmern.» Celia liess meinen Arm los, als sie die Tür öffnete, die offensichtlich nicht automatisch funktionierte. «Der Türöffner ist kaputt», erklärte sie mir und grinste entschuldigend. «Morgen sollte er wieder gehen. Hat zumindest der Dekan behauptet.»

Ich lächelte bloss, denn mir war es egal, ob ich die Tür selbst öffnen musste oder nicht. Ich hatte weit grössere Probleme, um die ich mich kümmern musste. Den ersten Tag überleben, beispielsweise.

«So schlecht ist es hier gar nicht», meinte Celia, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

«Bist du dir da sicher?», hakte ich nach und versuchte mich an einem Lächeln.

Sie zuckte mit den Schultern. «Das Essen ist ganz okay.»

Ich grinste schief. «Das ist immerhin etwas.»

«Genau», erwiderte sie, als wir durch die Tür traten. «Man muss immer das Positive sehen.»

«Hast du sonst noch was Positives für mich?», wollte ich wissen, während ich mich im Gebäude umsah. Unter meinen Füssen knarzte ein alter Holzboden. Die Wände waren von einer nicht sehr hübschen Tapete verunstaltet worden, die wahrscheinlich irgendwann sonnengelb gewesen war, jetzt aber eher an einen grauen Wintermorgen erinnerte.

«Die Jungs sind heiss.»

«Gut zu wissen.»

Sie lachte und führte mich zielstrebig durch den langen Flur, direkt auf eine Treppe zu, die nach oben führte. Als wir im nächsten Stockwerk ankamen, deutete sie auf die Tür, die rechts von uns zu sehen war.

«Das ist dein Zimmer. Du teilst es dir mit Marzia. Wenn ich mich nicht irre, hat sie gerade Sport, du lernst sie aber später in Englischer Literatur kennen.» Sie zog ihr Handy hervor und warf einen Blick aufs Display. «Du hast noch eine halbe Stunde, ehe es beginnt. Komm besser nicht zu spät, Professor Ward legt Wert auf Pünktlichkeit.»

«Danke», sagte ich höflich und hatte meine Hand schon auf der Klinke, als sie hinzufügte: «Herzlich willkommen an unserer Spuk-Uni, Acacia.»

Bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, hatte sie mir schon den Rücken zugedreht und war verschwunden.

Ich liess den Koffer aufs unbezogene Bett plumpsen, da ich davon ausging, dass es meins war. Die andere Seite war, im Gegensatz zu meiner, bunt geschmückt mit den verschiedensten Gegenständen, von denen ich glaubte, sie wären einem Kitschladen entsprungen. Die Nachttischlampe war von einem so grellen Pink, dass ich Mühe hatte, sie länger als ein paar Sekunden anzusehen, ohne den Drang zu verspüren, sie aus dem hohen, eckigen Fenster zu werfen.

Die Bettdecke meiner Mitbewohnerin war himmelblau und mit kleinen Blumen verziert, was überhaupt nicht zum Rest der Einrichtung passte. Es war viel zu kindlich, während alles andere eher an eine Partymaus erinnerte.

Ich schnappte mir den Reissverschluss des Koffers, zog ihn einmal um das Gepäckstück herum und fischte meine Klamotten raus, die ich unordentlich zusammengefaltet, wie sie waren, in die Schubladen der Kommode, die direkt neben dem Bett stand, stopfte. Ich war kein besonders ordentlicher Mensch, ich fand, dass man die Zeit sinnvoller investieren konnte. Mit Serien schauen und Bücher lesen zum Beispiel. Oder mit Musik hören. Eigentlich mit allem, was nichts mit Hausarbeiten zu tun hatte.

Ich liess den Koffer in einer Ecke verschwinden. Um die restlichen Dinge, die ich eingepackt hatte, würde ich mich später kümmern. Mit langsamen Schritten trat ich vors Fenster und schaute hinaus. Direkt vor der Glasscheibe wehte ein Baum sanft im Wind hin und her. Hätte ich in der Schule besser aufgepasst, wüsste ich vermutlich, um welche Art von Baum es sich handelte. Aber das hatte ich nicht. Ausserdem, ein Baum war ein Baum, oder?

Ich konnte von hier aus in den Innenhof sehen, den wir passiert hatten, um zu diesem Gebäude zu gelangen. Wenn ich mich ganz nach rechts stellte, konnte ich den Kirchturm bewundern. Allerdings hatte ich dafür keine Augen. Viel eher konzentrierte ich mich auf die Gruppe von Jungs, die gerade durch die Tür traten und sich dem Nebengebäude näherten. Sie waren in Eile. Das sorgte dafür, dass ich mein Handy aus der Hosentasche kramte und einen Blick darauf warf. Mist, wie war die Zeit nur so schnell verflogen?

Hastig schnappte ich mir meine Handtasche, prüfte, ob ich meinen Laptop dabeihatte, und sprintete aus dem Zimmer. Meine Sohlen hinterliessen erneut ein lautes Knarzen auf dem Fussboden. Ich wäre fast in die geschlossene Tür gerannt, wäre mir nicht rechtzeitig eingefallen, dass es die einzige war, die sich nicht automatisch öffnete.

Ich flitzte über den Innenhof und stoppte erst vor der nächsten geschlossenen Tür, die sich für meinen Geschmack zu langsam aufschob. Ich hielt nervös den Atem an, als ich daran dachte, dass Celia mich davor gewarnt hatte, zu spät zu kommen. Als ich endlich hindurchpasste, rutschte ich beinahe auf dem glatten Boden aus.

Zwei Hände griffen nach mir und sorgten dafür, dass ich das Gleichgewicht behalten konnte. Sicherheitshalber klammerte ich mich dennoch an den muskulösen Armen fest, die zu einem attraktiven jungen Mann gehörten. Blonde Haare verdeckten knapp wunderschöne dunkelgrüne Augen, die mich amüsiert musterten.

«Zu spät?», riet er, als er mich losliess.

Ich nickte keuchend. «Jap, und das an meinem ersten Tag. Wirklich super.»

«Ach, dann musst du Acacia sein.»

Ich strich meine Bluse glatt. «Hat sich das so schnell rumgesprochen?»

Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. «So was spricht sich immer schnell rum. Ist eine kleine Insel.»

«Sorry, ich würde gern noch weiterplaudern, aber ich muss gehen!» Ich drehte mich rasant um und starrte die vielen Türen an. Verflucht, welcher Raum war noch mal N3?

«Wohin musst du?»

«N3.»

«Zu Ward. Verstehe. Komm mit.» Er legte sanft seine Hand auf meinen Rücken und schob mich vorwärts. Als wir stoppten, griff er zur Klinke, drückte sie runter und bugsierte mich in den Raum. Bevor er mir die Tür vor der Nase zuknallen konnte, meinte er noch: «Ich bin übrigens Elijah.»

«Acacia Davies, nehme ich an», vernahm ich eine Stimme hinter mir. Abrupt drehte ich mich um meine eigene Achse. Vor der weissen Wand stand ein unerwartet hübscher Mann, der glatt als Model durchgehen könnte. Seine braunen Haare waren auf der Seite kürzer geschnitten und die mittlere Partie nach oben gestylt.

«Äh, ja», brachte ich hervor, als mir aufging, dass er auf eine Erwiderung meinerseits wartete.

«Setzen Sie sich.» Er deutete auf das einzige leere Pult. Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen und schlich auf leisen Sohlen durch das Zimmer. In der hintersten Reihe stoppte ich, liess mich auf den Stuhl gleiten und fischte meinen Laptop hervor, während Professor Ward bereits begann, etwas über Shakespeare zu erzählen.

Eine junge Frau am Nebenplatz warf mir einen freundlichen Blick zu. «Ich bin Marzia. Wir teilen uns das Zimmer.»

Das war sie also, die Frau, die ich anhand ihrer Einrichtung nicht hatte einordnen können. Sie trug ihr blondes Haar schulterlang, wodurch ihr schmaler Hals zur Geltung kam. Lange Ohrringe schmückten ihr schönes Gesicht, das mir ein bezauberndes Lächeln schenkte. Ihre schlanken Beine steckten in hübschen Overknee-Stiefeln, um die ich sie sofort beneidete.

«Freut mich», gab ich zurück und klappte den Laptop auf, um ein Dokument zu öffnen, damit ich wenigstens so tun konnte, als würde ich der Vorlesung folgen wollen.

«Mich auch.» Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter, ehe sie sich nach vorn drehte und nun ebenfalls auf ihre Tastatur hämmerte. Ich konnte aus dem Augenwinkel jedoch sehen, dass sie ein Nachrichtenprogramm geöffnet hatte und mit irgendwelchen Chats beschäftigt war.

Ich lehnte mich im Stuhl nach hinten und versuchte angestrengt, Professor Wards Worten zu folgen. Obschon ich Bücher liebte, gehörte Ältere Englische Literatur seltsamerweise nicht zu meinen Lieblingsfächern. Daran konnte auch ein heisser Professor nichts ändern.

Ich schaffte es, den ersten Unitag zu überleben, ohne gross aufzufallen. Zumindest hatte ich keine peinlichen Begegnungen mehr gehabt, die dazu geführt hätten, nähere Bekanntschaft mit dem Boden zu schliessen. Marzia hatte die nächsten Vorlesungen nicht mehr mit mir zusammen, weshalb ich die Minuten stumm auf meinem Stuhl über mich hatte ergehen lassen.

Ich hatte mich in der hintersten Reihe verkrochen, in der Hoffnung, mit niemandem reden zu müssen. Ich hasste es, von mir zu erzählen. Zu berichten, wieso es mich auf diese merkwürdige Uni mitten im Nirgendwo verschlagen hatte. Ich war nicht gesprächig, ausser, ich mochte die Person. Aber Fremden gegenüber folgte ich der Devise, dass zuhören besser als sprechen war.

Es war bereits kurz nach fünf, als ich mich auf mein Bett fallen liess und erschöpft die Augen schloss. Ich verfluchte meine Eltern bereits jetzt dafür, mich hierhin geschickt zu haben. Was war das bloss für ein schreckliches Gefängnis? Rund herum nur Wasser, keine Möglichkeit, einfach auszubüxen und sich irgendwo zu verkriechen. Wie dieser Elijah gesagt hatte: Es war eine wirklich kleine Insel.

«Wenn du weiter so bedrückt dreinschaust, bekommst du viel zu früh Falten», riss mich eine hohe Stimme aus meinen Gedanken. Marzia stand im Türrahmen und grinste über beide Ohren.

«Ist mir egal», murmelte ich und drückte mir ein Kissen aufs Gesicht.

«Ja, ganz offensichtlich.» Sie lachte fröhlich, schloss die Tür und warf sich auf ihre Matratze. «Um sechs gibt es Abendessen, falls du Hunger hast. Falls nicht, würde ich dir trotzdem empfehlen, mich zu begleiten. Wenn du dich im Zimmer versteckst, wird das Getratsche über dich nur grösser.»

«Getratsche?» Ich riss meinen Kopf nach oben und starrte sie mit weit geöffneten Augen an.

«Klar, du bist neu. Im Moment bist du also das Gesprächsthema Nummer eins.»

«Na ganz toll.» Ich schnitt eine Grimasse, ehe ich das weiche Kissen an seinen Platz zurückverfrachtete.

«Ach, das wird schon. Nächste Woche haben sie wieder was anderes, worüber sie sich das Maul zerreissen können.» Marzia warf mir einen mitfühlenden Blick zu, bevor sie den Kopf schief legte und interessiert fragte: «Woher kommst du?»

«New York.»

«Oh, Mist. Das muss eine echt fiese Umstellung sein.»

«Ist es», bestätigte ich und blickte mich im kleinen Zimmer um.

«Kopf hoch, Acacia. So beschissen ist es hier gar nicht.»

«Das habe ich heute schon mal gehört.»

«Von Celia, schätze ich.»

Ich nickte bloss.

«Sie hat recht. Hat sie für gewöhnlich immer.»

«Werde ich mir merken.» Ich schwang mich vom Bett und trat ans Fenster heran. Meine Augen suchten draussen im Innenhof nach Menschen. Da Marzia in meiner Nähe war, könnte ich sie über die anderen Mitstudierenden und Mitgefangenen ausfragen.

Ich blieb am einzigen jungen Mann hängen, dessen Name ich bereits kannte. Marzia war ebenfalls aufgesprungen und gesellte sich zu mir. Sie folgte offenbar meinem Blick, denn sie sagte: «Das ist Elijah, unser Genie. Er studiert Mathematik und Physik.»

«So sieht er gar nicht aus.»

«Das Aussehen kann trügen», philosophierte Marzia schmunzelnd.

Meine Augen wanderten weiter. «Und wer ist das neben ihm?»

Sie schob mich ein wenig zur Seite, um besser sehen zu können. «Ach, das ist Enzo, unser Oberstreber. Hauptfach Geschichte, Nebenfach Sport.»

Ich unterdrückte den Impuls, meine Worte zu wiederholen. Enzo sah überhaupt nicht wie die Streber an meiner alten Uni aus. Auch wenn ich von hier oben eigentlich nur die Lederjacke und den dunkelbraunen Haarschopf erkennen konnte. Tja, so wie es aussah, hatte Celia wirklich immer recht: Die Typen hier waren heiss. Wenigstens etwas.

Die beiden waren die Einzigen, die im Innenhof standen, weshalb meine Fragerunde bereits wieder beendet war.

«Und was studierst du?»

«Dasselbe wie du: Englische Literatur- und Sprachwissenschaft. Ausserdem, wenn ich Bock habe, Geschichte.»

Ich schmunzelte. Ihr mein Nebenfach zu sagen – Französisch –, ersparte ich mir, da ich darauf tippte, dass sie es ohnehin bereits in Erfahrung gebracht hatte.

«Ich geh duschen, dann begleite ich dich gern zum Abendessen», erklärte ich, um die Stille zu füllen, die sich auszubreiten drohte.

«Perfekt. Dann kann ich dir auch noch die anderen aus unserer Clique vorstellen.»

Ich unterdrückte einen Seufzer, um mir meine nicht vorhandene Euphorie nicht anmerken zu lassen.