Leseprobe aus: Der Sohn des Fenrir

15.06.2019

  • 1

Es war spät. Normalerweise wäre er bereits zu Hause, doch heute hielt ihn jemand auf. Es kam nicht mehr oft vor, dass er in der Menschenwelt unterwegs war. Die letzten Wochen hatte er bei seinem Bruder verbracht, in seiner Vergangenheit. Doch nun konnte er diesem Teil seines Lebens ein Ende setzen.

Zumindest fast. Wäre da nicht sein bescheuerter Werwolf-Vater, der es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, sein Leben zu ruinieren. Seit Tagen legte er ihm Leichen vor die Tür, die er natürlich gekonnt ignorierte.

Vor Jahrhunderten hatte er, gemeinsam mit seiner Mutter Skade, der nordischen Göttin der Jagd, dafür gesorgt, dass Fenrir in seiner Wolfsgestalt verharren musste. Skade war tot - Ty hatte sie getötet, und ihr Tod hatte Fenrir befreit, ihm seine menschliche Seite zurückgegeben. Seither wurde er ihn einfach nicht mehr los.

Das Leben war ein mieser Gegenspieler und hatte einfach keinen Sinn für Humor.

Er hatte keine Angst vor Fenrir, er ging ihm einfach bloss auf die Nerven. Aber jetzt hatte sich etwas geändert. Heute Morgen war keine Leiche vor seinem Palast aufgetaucht. Sondern ein Zettel.

Wenn du deine kleine Freundin zurückwillst, dann öffne das Tor.

Erst hatte er das für einen schlechten Scherz gehalten, er hatte schliesslich keine Freundin, also womit genau versuchte sein Vater ihm zu drohen?

Dann hatte er es aber begriffen.

Tessa.

Sie war vor zwei Tagen verschwunden, wie ein Vögelchen ihm gezwitschert hatte. Eigentlich konnte ihm das egal sein. Kollateralschaden interessierte ihn nicht. Noch mehr Blut an seinen ohnehin schon blutroten Händen interessierte ihn auch nicht. Aber das war sein Kampf. Sein Vater war zu weit gegangen, die Sirene mitreinzuziehen. Niemand legte sich ungestraft mit ihm an.

Aber er war kein Idiot. Er dachte nicht im Traum daran, das Tor, das durch Magie geschützt war, zu öffnen, um seinem Vater freien Zutritt zur anderen Seite, seinem Königreich, dem Reich der Toten, zu gewähren. Eher würde er alles in Schutt und Asche verwandeln.

Nein, er hatte eine weit gerissenere Idee. Er würde Tessa befreien. Aber nicht alleine, dafür brauchte er Hilfe. Von einem alten Freund, der eigentlich eher ein Feind war. Er wollte die Höhle des Löwen betreten, dafür musste er jemanden an seiner Seite haben, den man nicht einfach so umbringen konnte.

Er hatte ein paar Telefonate machen müssen, um die Adresse rauszufinden, aber schlussendlich hatte er es geschafft. Jetzt war er auf dem Weg dorthin und hoffte inständig, dass er ihm helfen würde. Normalerweise bat er niemandem um Hilfe, aber dieses Mal ging es nicht anders, er hatte keine andere Wahl.

Er bog um die Ecke und befand sich in einer schmalen Seitengasse. London war noch nie seine Lieblingsstadt gewesen, er bevorzugte eher kleine Städtchen, in denen nicht viel los war. Besonders jetzt, da er sein Reich hatte, das für seinen Geschmack viel zu überfüllt war. Die Laternen warfen seinen Schatten an die kahlen Hausmauern. Seine Augen suchten nach der richtigen Tür. Als er sie gefunden hatte, blieb er stehen und dachte einen Moment darüber nach, wie er ihn davon überzeugen konnte, ihm zu helfen.

Ihm fiel nichts ein, und dennoch klingelte er.

Die Tür wurde ihm geöffnet und Bens Gesicht erschien. Benjamin Gardner. Nicht Mensch, nicht Werwolf, sondern Erzengel. Wobei Ben selbst immer behauptete, er sei nur so was wie ein Erzengel. Tja, aber Ty wusste es besser. So wie er immer alles besser wusste.

«Das ist ein Scherz, oder?» Ben schnitt eine Grimasse und lehnte sich gegen den Türrahmen. «Tyler Collins beehrt mich mit einem Besuch. Das kann ja nichts Gutes bedeuten.»

Ty grinste und zuckte mit den Schultern. «Was soll ich sagen? Die Welt ist zu klein, um sich für immer aus dem Weg zu gehen.»

«Da wäre ich mir nicht so sicher.» Ben stiess sich ab, trat einen Schritt nach hinten und machte eine einladende Geste. «Komm rein. Aber wenn du irgendwas Fieses planst, was mich umbringen könnte, dann kannst du gleich wieder gehen.»

Ty verzichtete darauf, einen Kommentar abzugeben, sondern trat in Bens Wohnung und begab sich dort ins Wohnzimmer. Es war schlicht gehalten, so wie er es erwartet hatte. Die schwarze Couch war das einzig edle Möbelstück im Raum, denn der Holztisch, der in der Ecke vor einem kleinen Fenster stand, hatte seine besten Tage schon weit hinter sich gelassen, genauso wie die drei Stühle, die darum verteilt waren.

«Hübsch hast du's hier», meinte er und verkniff sich das Grinsen. Eigentlich hatte er kein Recht, über eine solche Wohnung zu urteilen, schliesslich war sein Königreich eine einzige Gerümpelkammer. Aber es war eben seine Gerümpelkammer.

Ben warf ihm nur einen ziemlich eindeutigen Blick zu, der sagen sollte, dass er sehr wohl wusste, in was für einem Loch er hier lebte. Was Ty erstaunte, denn er hatte Ben immer für reich gehalten.

«Das ist nur eine Zwischenlösung», erklärte der Erzengel, als er sich auf die Couch setzte. «Bin gerade am Umziehen.»

«Wohin?»

Ben hob die Achseln. «Schottland vermutlich.»

Ty trat vors Fenster und schaute hinaus. Er hatte nicht das Gefühl gehabt, verfolgt worden zu sein, aber Vorsicht war bekanntlich besser als Nachsicht. Deshalb liess er seinen Blick prüfend durch die dunkle Gasse schweifen, nur zur Sicherheit.

«Also, was willst du hier?»

Er drehte sich zu Ben um. «Ich brauche deine Hilfe.»

Auf Bens Gesicht erschien ein Grinsen. «Der grosse Tyler Collins braucht Hilfe? Verdammt, den heutigen Tag muss ich mir eindeutig merken.»

Ty reagierte nicht darauf, sondern meinte: «Da du gerade sowieso nichts Besseres zu tun hast», er schaute sich demonstrativ in der Wohnung um, «wirst du wohl nichts dagegen haben, mir einen kleinen Gefallen zu tun.»

«Wenn es um dich geht, ist der Gefallen bestimmt nicht klein.»

«Ach, sei nicht so negativ.» Ty lehnte sich neben dem Fenster an die Wand. «Ich muss jemanden befreien.»

«Wen?»

«Eine Freundin.»

«Seit wann hast du denn Freunde?»

Er schnitt eine Grimasse. «Dann eben eine ... flüchtige Bekannte.»

«Was ist mit ihr passiert?»

«Mein Vater hat sie entführt und versucht mich damit zu erpressen.» Er sah keinen Grund, Ben anzulügen. Vermutlich hatte er die Gerüchte ohnehin schon gehört. Es hatte bis vor Kurzem nicht viele gegeben, die gewusst hatten, wer er tatsächlich war. Er war nicht einfach nur ein Werwolf. Er war nicht einfach nur ein Gott. Er war auch nicht einfach nur ein Mistkerl.

Er war Tyler Collins.

Sein Name war eine Warnung. Ein Versprechen, dass es niemand überlebte, sich mit ihm anzulegen.

«Dein Vater also.» Ben machte eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: «Ich habe davon gehört. Tyler Collins, der Sohn des Fenrir. Wenn das mal nicht eine interessante Entwicklung ist.»

«Also, hilfst du mir jetzt oder was?» Ty wurde ungeduldig. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Tessa war in Fenrirs Gewalt. Er wusste genau, was das bedeutete: Sie wurde gefoltert. Jede Minute. So lange, bis sie sich wünschen würde, tot zu sein. Aber Fenrir würde sie nicht töten, niemals. Denn dann wäre sein Druckmittel weg.

«Wieso sollte ich? Was hat das überhaupt mit mir zu tun?»

«Ich brauche jemanden, der nicht so einfach sterben kann», erklärte Ty ruhig. Ben war der Einzige seiner Art. Der einzige Erzengel. Zumindest der Einzige, der sein Dasein auf der Erde fristete. Er kannte Bens Geheimnis, er kannte alle Geheimnisse. Denn er lebte schon viel zu lange auf dieser Welt, um etwas nicht zu wissen. Normalerweise kümmerten ihn andere nicht. Aber Ben war interessant. Sie hatten gemeinsam gekämpft. Sie hatten gegeneinander gekämpft. Und doch waren sie beide noch am Leben.

Ben verzog nachdenklich das Gesicht. «Seit wann interessierst du dich für andere?», erkundigte er sich und lehnte sich auf der Couch zurück.

Diese Frage hatte Ty sich auch schon gestellt. Aber er wusste keine Antwort darauf. Jede andere Frau hätte ihn überhaupt nicht gekümmert. Er hätte sie vermutlich einfach in Fenrirs Gefangenschaft verrotten lassen. Aber Tessa war anders. Sie verband eine gemeinsame Geschichte, auch wenn sie äusserst kurz war. Aber die Wochen, die sie an seiner Seite in Asgard verbracht hatte, hatten sie irgendwie zusammengeschweisst. Er hatte das Gefühl, ihr noch etwas schuldig zu sein.

«Bei ihr ist es etwas anderes. Ausserdem gönne ich meinem Vater den Erfolg nicht.» Das war nicht einmal gelogen. Er wollte Fenrir in seine Schranken weisen, denn niemand sollte es wagen, sich mit ihm anzulegen. Er hatte seinen Vater schon einmal besiegt, es würde ihm auch ein zweites Mal gelingen. Aber dieses Mal würde er ihn nicht bloss irgendwo an einen Felsen ketten, sondern ihn direkt nach Helheim schicken, wo er gemeinsam mit Skade in der ewigen Verdammnis vermodern konnte.

Ben verschränkte die Arme hinter dem Kopf. «Weisst du was? Du hast Glück. Ich langweile mich hier noch zu Tode, also werde ich dir helfen. Ein Abenteuer, wie in guten alten Zeiten.»