Leseprobe aus: Der Sohn des Hermes 2
1
Pass auf, wen du verlierst, Prinz
Seine Laune war auf dem Tiefpunkt. Vielleicht sogar noch darunter, sollte das möglich sein. Nicht nur, weil er seit Tagen kaum geschlafen hatte - der Waldboden war kein Freund von ihm -, sondern auch, weil die Jagd der dümmste Gedanke war, den jemals ein Gott in seinem beschränkten Hirn gedacht hatte. Glaubte überhaupt irgendjemand daran, Utgard zu finden?
Nun, Damion glaubte seit genau zwei Wochen nicht mehr daran, dem Tag, an dem diese bescheuerte Jagd begonnen hatte. Zwei Wochen, in denen viel geschehen war.
Tyler kickte einen Stein weg. Damion jedoch registrierte das nur am Rande. Seine Gedanken waren nicht interessanter, aber er hatte genug davon, seinen Bruder zu beobachten. Denn seit Tagen war Tyler Collins alles, was er zu sehen bekam.
Wieso?
Weil ein paar unglückliche Zwischenfälle dafür gesorgt hatten, dass er Lila, Bas und Tessa, ja selbst Bob, die Harpyie, aus den Augen verloren hatte. Und seither war es ihm noch nicht gelungen, sie wiederzufinden. Was seine Laune erst recht in den Keller katapultierte, sollte es hier irgendwo einen geben. Das Leben meinte es überhaupt nicht gut mit ihm.
«Jetzt reiss dich zusammen, Daim. Dein Gesichtsausdruck vermiest mir sonst auch noch die Laune», beschwerte sich Tyler, während er einen weiteren Stein gegen einen der blauschimmernden Bäume bugsierte.
Er war versucht, ihn in irgendwas zu verwandeln. Irgendwas, das keinen Laut von sich geben konnte. Allerdings hätte ihn das im Endeffekt auch nicht besser gestimmt, wie er vermutete. Es gab momentan nichts, was ihn glücklich machen konnte. Ausser vielleicht, seine Freunde zu finden und die Jagd zu gewinnen, ohne von Odin umgebracht zu werden. Ja, das hätte ihn tatsächlich glücklich gemacht.
«Nenn mich nicht Daim», brummte er und zog sich die Lederjacke über die Schultern. Er hatte sich gegen einen Baum gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihm stand der Sinn nicht nach einem Gespräch. Doch er wusste sofort, dass Tyler nicht mehr die Klappe halten würde. Sein Bruder war kein sehr geselliger Werwolf, dafür ein sehr gesprächiger. Besonders, wenn er dem Irrglauben erlag, etwas unglaublich Wichtiges zu sagen zu haben.
«Krieg dich ein und streng deinen Kopf an. Sonst finden wir Utgard nie.»
Als wüsste er das nicht. Als würde er nicht seit zwei verdammten Wochen alles dransetzen, dieses dämliche Utgard zu finden. Was ihm nicht gelang. Was ihm vielleicht nie gelingen würde. Aber Tyler schien das nicht zu kapieren. Oder er wollte ihn einfach wütend machen. Oder beides. Ihm war es egal.
«Wie wäre es, wenn du jemand anderem auf die Nerven gehst, Ty?», murrte er, stiess sich vom Baum ab und begann, in irgendeine Richtung zu marschieren. Er drehte sich nicht um, Tylers Schritte verrieten ihm auch so, dass er nicht lange seine Ruhe haben würde.
«Würde ich ja», hörte er Tylers amüsierte Stimme in seinem Rücken. «Nur leider hast du es geschafft, unsere Freunde zu verlieren.»
«Ich habe sie nicht verloren», brummte Damion gereizt.
«Ach, wie würdest du es dann bezeichnen?»
«Halt einfach die Klappe, Ty.»
«Später vielleicht. Mir ist gerade langweilig. Reden ist alles, was ich hier tun kann.»
«Wieso zum Teufel habe ich dich nicht irgendwo verloren?!»
«Ich dachte, du hättest sie nicht verloren», erinnerte Tyler und duckte sich nur eine Sekunde später. Gerade rechtzeitig, um dem Stein, den Damion ihm mithilfe seiner Magie an den Kopf hatte werfen wollen, auszuweichen.
Zu Damions tiefstem Bedauern.
«Du solltest ernsthaft über eine Aggressionsbewältigungstherapie nachdenken.»
Er war versucht, dieses Mal einen Felsbrocken zu schleudern, aber Tyler war die Mühe nicht wert, weshalb er den Impuls unterdrückte. «Sagt ausgerechnet der blutrünstige Werwolf.»
Tyler holte ihn auf und zuckte beiläufig mit den Schultern. «Mir macht es nichts aus, blutrünstig zu sein. Das verschafft mir einen gewissen Ruf, den ich brauche, um zu überleben.»
«Was hast du vor, sobald die Jagd zu Ende ist?», erkundigte sich Damion, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Eine, die weniger darauf beruhte, wie er seine Freunde verloren hatte.
«In mein Reich zurückkehren, ein Glas Whiskey trinken und nie wieder darüber nachdenken.»
Damion blieb ruckartig stehen. Sie waren ungleiche Brüder. So ungleich wie es nur ging. Doch sie hatten ein paar wenige Gemeinsamkeiten. Beispielsweise die wirklich hasserfüllten Gefühle, die sie ihrer Mutter gegenüber hegten.
«Lassen wir Skade einfach damit davonkommen?»
Tyler ging an ihm vorbei, erst dann machte er halt und schaute Damion mit düsterer Miene an. «Nein.»
Er war sich nicht sicher, ob ihn die Antwort freuen sollte oder nicht. Er wollte kein Blut an seinen Händen haben. Gleichzeitig wusste er, dass es Tyler nicht kümmerte. Er würde Skade ohne mit der Wimper zu zucken umbringen. Es spielte keine Rolle, dass sie ihre Mutter war. Und Damion konnte es in diesem Fall sogar verstehen. Er hatte immer noch keine Ahnung, was sie Tyler gestohlen hatte, um ihn dazu zu bewegen, an der Jagd teilzunehmen. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Bruder es ihm niemals verraten würde.
«Sie ist unsere Mutter», entgegnete Damion und wusste selbst nicht, was diese Aussage bedeuten sollte.
Wie erwartet, reagierte Tyler mit einem schwachen und doch so scharfen Lächeln, dass man Angst bekam, sich daran zu schneiden. «Niemand legt sich mit mir an. Niemand stiehlt etwas, das mir gehört, und kommt ungeschoren damit davon.»
«Komisch, dasselbe dachte ich gerade über mich.»
Tylers Gesicht nahm einen amüsierten Ausdruck an. «Auch wenn du immer wieder betonst, dass dir alles egal ist und das nichts dich kümmert, weiss ich es doch besser, Damion. Dein Gewissen würde nie zulassen, dass du deine eigene Mutter tötest. Nun, zu deinem Glück habe ich schon sehr lange keines mehr.»
Er war versucht, seinem Bruder zu widersprechen. In beiden Punkten. Doch ihm war bewusst, dass er recht hatte. Er könnte seiner Mutter niemals ernsthaft etwas antun. Tyler schon. Denn wie er selbst gesagt hatte: Er hatte schon lange kein Gewissen mehr. Er war Tyler Collins, der unsterbliche Werwolf, der alle aus dem Weg räumte, die es wagten, ihm in die Quere zu kommen.
Deshalb schwieg er und richtete seinen Blick gegen den Himmel, der hinter Baumkronen hervorblinzelte. Sein Bauch zog sich schmerzhaft zusammen, als er an Lila dachte. Um Bas und Tessa machte er sich keine Sorgen. Der Dämon und die Sirene waren ausgebildete Krieger. Beide würden sich ohne Probleme verteidigen können. Doch Lila war anders. Er hatte sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war. Es war dumm gewesen, sie mitzunehmen, er hätte es besser wissen müssen. Er hätte sie im Olymp lassen sollen, bei Zeus, in Sicherheit.
Er war ein Idiot. Er hätte sie hier im Wald keine einzige Sekunde aus den Augen lassen sollen. Doch er hatte sich ablenken lassen. Nur ganz kurz. Aber es hatte gereicht.
Wie gesagt: Idiot.
Er prallte gegen Tylers ausgestreckten Arm. Bevor er sich lautstark beschweren konnte, drückte sein Bruder ihn weg, hinter einen Baum.
«Was soll das?», erkundigte er sich leise, während sein Blick an Tyler vorbeihuschte, bemüht, den Grund für den unsanften Stopp herauszufinden.
«Schwarzalben», zischte Tyler. Damion sah den dunklen Schimmer, der durch seine Augen huschte. Er wusste, was er bedeutete.
«Vergiss es!» Er riss an Tylers Schulter. «Du wirst dich jetzt nicht in einen Werwolf verwandeln und die Typen umbringen!»
«Wieso denn nicht?»
«Weil sie in der Überzahl sind.»
«Damit komme ich klar.»
Damion drückte seine Hand fester in Tylers Fleisch. «Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt, Ty. Lass. Es. Sein.» Er zog jedes Wort in die Länge.
Tylers Augen wurden noch eine Spur dunkler. Damion konnte darüber jedoch nur müde lächeln. Sein Bruder und er waren nicht die besten Freunde, aber er wusste, dass sie einander nie ernsthaft schaden würden. Schliesslich waren sie Familie.
Die Männer, die sich einen Weg in ihre Richtung gebahnt hatten, auf dem schmalen, durch den dichten, blauschimmernden Wald führenden Pfad marschierten in Reih und Glied an ihnen vorbei, ohne sie zu bemerken. Damion hatte darauf verzichtet, auf den wenigen Wegen, die durch den Wald führten, zu gehen, um genau solche Situationen zu vermeiden. Auch wenn sie nun durchs Dickicht kriechen mussten, an Dornenbüschen und tiefhängenden Ästen vorbei. Dennoch waren die Kratzer, die sich auf ihren Armen gebildet hatten, ein kleiner Preis. Hätten die Schwarzalben sie gesehen, hätten sie sie aufgespiesst und als Warnung für die anderen Jäger zurückgelassen.
Tyler wusste das genauso gut wie er. Nur kümmerte es ihn sehr viel weniger. Manchmal hatte Damion das Gefühl, sein Bruder verspürte einen niemals ganz verschwindenden Todeswunsch. Vielleicht hatte die Ewigkeit ihre Spielchen mit seinem Gehirn gespielt. Vielleicht war er es auch einfach nur leid, immer zu kämpfen.
Oder vielleicht bildete sich Damion das alles nur ein.
Seit dem Tag, an dem Damion Bas, Tessa und Lila aus den Augen verloren hatte, war er besonders auf der Hut. Die Zwerge waren keine Gefahr mehr. Raik war auf ihrer Seite, solange sie ihnen keine Probleme mehr bescherten und keinen der ihren töteten. Die Schwarzalben hingegen, nun, die waren nicht sehr glücklich gewesen, dass Damion und Lila in ihr Lager eingedrungen waren. Noch unglücklicher hatte sie nur die Tatsache gemacht, dass Bas einem von ihnen einen Pfeil in den Hals geschossen hatte.
Natürlich wussten sie nicht genau, wer dahintersteckte, aber Damion war trotzdem klug genug, ihnen nicht mehr in die Quere kommen zu wollen. Sie hatten sie einige Male gekreuzt, doch nie hatten sie sie entdeckt. Weil Damion Tyler immer im letzten Augenblick hatte davon abhalten können, ihnen die Kehle rauszureissen.
Er wusste allerdings nicht, wie oft ihm das noch gelingen würde. Vermutlich nicht mehr all zu oft.
Der Wald war zu ihrem Versteck geworden. Sie verschmolzen mit den Bäumen, denn wenn Tyler Collins etwas beherrschte, dann war es, im Schatten zu wandeln. Selbst ein Schatten zu werden. Er fiel niemals auf, wenn er das nicht wollte. Damion hatte die letzten Tage von ihm gelernt. Er hatte gelernt, Spuren zu verwischen. Leider war es ihnen selbst nicht gelungen, Spuren zu folgen, sonst hätte er Lila schon längst wiedergefunden.
Er verdrängte ihr Gesicht aus seinen Gedanken.
«Was jetzt, Bruderherz?» Tyler lehnte sich gegen den Baum, verschränkte seine zerkratzten Arme vor der Brust und blickte ihn abwartend an.
«Weitergehen.»
Tyler stiess einen tiefen Seufzer aus. «Und dann was? Wieder weitergehen? Jeder Idiot weiss, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Ich habe genug davon, mich zu verstecken.»
«Dann tu doch, was du nicht lassen kannst», gab Damion entnervt zurück. «Geh und bring die Alben um. Hauptsache, du lässt mich in Ruhe.» Er drehte seinem Bruder den Rücken zu. Etwas, von dem er wusste, dass man es nicht tun sollte. Nur Sekunden später verpasste der Werwolf ihm einen Schlag in die Kniekehle. Er unterdrückte einen Fluch. Langsam wandte er sich wieder Tyler zu. «Tu das nicht noch einmal.»
«Sonst was?» Tyler grinste angriffslustig.
«Sonst verwandle ich dich in irgendwas, das mir nicht mehr auf die Nerven gehen kann. Eine Ameise, beispielsweise.» Ihm war bewusst, dass die Drohung lächerlich klang, aber das war beabsichtigt. Grössenteils jedenfalls.
«Sehr angsteinflössend, Daim.»
Er zuckte nur mit den Schultern. Dann marschierte er davon. Dieses Mal, ohne einen Schlag verpasst zu bekommen.